Ein zentrales Problem der Philosophie ist die Frage nach Wesen, Grenzen, Voraussetzungen und Kriterien der Erkenntnis. Damit hängt die Überlegung zusammen, ob der Mensch in der Lage ist, mittels seiner Sinneserfahrungen die Wirklichkeit der Welt zu erfassen, so dass sichere Erkenntnisse über sie gewonnen werden können, oder im Gegenteil dazu, ob die Vernunft als einzige Quelle der Erkenntnis gelten kann. Eine Diskussion, deren Entwicklung Kant maßgeblich prägte. In seiner Transzendentalphilosophie legte er dar, dass die wahre Natur der Gegenstände der Sinnenwelt vom menschlichen Erkenntnisapparat nicht erfasst werden kann. Dem Philosophen zufolge wird die Welt mittels der Stämme der Erkenntnis – Sinnlichkeit und Verstand – erfahrbar, ohne dass der Mensch jene tatsächlich durchdringen kann. ‚Beyond the horizon’ nennt Veronika Dobers diese fundamentale Unzugänglichkeit. Sie erklärt:
„Der Horizont ist die Grenze zwischen der sichtbaren Welt und dem Himmel. Jenseits dieser Linie setzt sich die Welt fort, der Wahrnehmung entzogen. In meinen Gedanken gibt es meine eigene Konstruktion, meine Interpretation der ‚wirklichen’ Welt. Ich erkenne nur, was ich sehen kann. Ich kann sehen, was ich weiß. Meine Gefühle und Vorstellungen, mein intellektueller Hintergrund erschaffen die Welt. Ich habe mich mit dieser Welt vertraut gemacht, aber ich frage mich, ob da noch mehr sein könnte hinter der Wand der Einbildungen, Überzeugungen und Vorurteile.“
Diese erkenntnistheoretische Betrachtung definiert das Reflexionsfeld, in dem sich die Arbeit Veronika Dobers’ bewegt, wobei sie als Thematik ab 2010 deutlicher als zuvor in den Vordergrund tritt. Unverkennbar zeigt sich dies in der aus acht Bildern bestehenden Serie Gedankenspiele (Mischtechnik auf Karton, 2010). Ein Zyklus, der auf die Frage nach der Beziehung zwischen Wirklichkeit und Vorstellung eingeht. Entsprechend ihrer Formensprache lässt sich die Serie unzweideutig der Figuration zuordnen. Denn die Elemente im Bild weisen eine spezifische Bezogenheit auf, die sich entweder als Abbild von Dingen bzw. Entitäten aus der Sinnenwelt identifizieren lässt oder die als visuelle Vergegenständlichung abstrakter Vorstellungen fungiert. Die Formen, die auf einem flächigen Hintergrund platziert sind, sind klar strukturiert und bilden ein System innerbildlicher Beziehungen auf, die darauf angelegt sind, Sinnzusammenhänge zu erzeugen. Jede Arbeit besteht demnach aus einzelnen Motiven, die in ihrer Spezifität eine Bedeutung konstituieren, die als semantische Einheit wiederum mit der jeweiligen Bedeutung aller anderen Bildmotive in Beziehung tritt. So stellt der Raum im Bild keine zusammenhängende, der Wirklichkeit der Außenwelt entsprechende Bühne dar, sondern eine abstrakte Ebene, auf der semiotische Korrelationen stattfinden. Somit verfügen die Bilder im Hinblick auf ihre inhaltliche Konstitution über eine eigene Syntax, Semantik und Pragmatik, auf deren Grundlage die philosophische Reflexion erfolgt.
In der Arbeit Gedankenspiele # 1, einem zentralen Werk der Serie, nähert sich die Künstlerin dem erkenntnistheoretischen Problem an, indem sie dessen Paradoxien veranschaulicht. Zwischen einem klar konturierten Bildmotiv, das eine auf einem Stuhl sitzende Figur mit einem aufgeschlagenen Buch vor ihrer Brust abbildet, und der schematischen Darstellung einer fernen Landschaft steht ein gewaltiges Bündel, eine amorphe und zugleich klar definierte Gestalt, deren Inhalt sich der Erfahrung entzieht. Eine metaphysische Situation suggerierend, projiziert es eine schwarze Dopplung seines Selbst in den leeren Raum, eine pechdunkle Silhouette, die in der Ikonografie der Künstlerin für Gedanken und Vorstellungen steht. Entsprechend der Bedeutung der Motive, die sich entweder direkt aus den Bildeinheiten selbst oder aus Dobers’ ikonografischen Konventionen ableiten lässt, verweist die gesamte Bildkonfiguration auf die Spannungslage, die die Faktoren der Erkenntnis – der Mensch, das erlernte Wissen, die Welt der Gedanken und die äußere Welt – herbeiführen. Ohne eine konkrete Antwort zu liefern, lässt das Bild die Unmöglichkeit uneingeschränkter Erkenntnis erblicken. Diese Unvollendbarkeit wird von der Arbeit Gedankenspiele # 3 auf eine sehr poetische Art und Weise zum Ausdruck gebracht. In diesem Bild, das formal wie Ersteres aufgebaut ist, hält der Mensch statt eines Buches einen goldenen Faden in der Hand, mit dem er die Vorstellung des abwesenden Bündels, als schwarzes Schattenbild versinnbildlicht, zu umzingeln versucht.
In der Serie The Unknown (Gouache auf Aquarellpapier, 2010) richtet die Künstlerin die Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen den Gedanken und der Welt einschließlich des Menschen. Dabei fungieren Erstere als eine autonome, der Wirklichkeit der äußeren Welt gleichzusetzende Macht. Körperhaft als schwarze Silhouetten dargestellt, treten die Gedanken als Seiende auf der Welt auf, als wären sie dabei, Letztere zu gestalten. In der Arbeit Drei Gedanken in einer Landschaft treten sie in kolossaler Gestalt einer Berglandschaft gegenüber, in der die Existenz des Menschen als real handelnde Instanz in einem winzigen Haus verortet wird.
Andere Arbeiten wie Teile dessen, was wir nie erfahren werden, Plan oder Suche nach Erkenntnis scheinen das Postulat untermauern zu wollen, dass die Gedanken als körperhafte Substanzen über denselben Realitätsgrad wie ihre Erzeuger verfügen, wonach beide Existenzformen im gleichberechtigten Verhältnis zur Erfahrungswelt stünden.
Der Zyklus Beyond the Horizon (Hinterglasmalerei auf Acrylglas, 2012-23) knüpft auf formaler und inhaltlicher Ebene an die Serie Gedankenspiele an, wobei die Künstlerin hier ein zusätzliches Element auf materieller Ebene ins Spiel bringt, das die semiotische Dimension der Arbeiten – in Einklang mit deren philosophischem Gehalt – erweitert. Dies tut Veronika Dobers mit der Verwendung der Hinterglasmalerei. Eine tradierte Maltechnik, mit der sie eine Verbindung sinntragender Art zwischen Stoff, Form und Inhalt herzustellen weiß. Bei dieser Technik handelt es sich um ein bilderzeugendes Verfahren, bei dem die Rückseite einer durchsichtigen Glas- oder Acrylglasplatte mit deckenden Farben bedeckt wird. Bildträger und Bildoberfläche bilden dabei eine materielle Einheit, die einem Fenster gleich die Realitätssphäre des Rezipienten von der des Bildes förmlich trennt. Der Wahrnehmungssituation entsprechend vermag der Rezipient seine Spiegelung auf der Glasoberfläche zu betrachten, oder in die Innenbildwelt hineinzusehen. Dadurch entsteht ein instabiler Wahrnehmungsmoment, auf den die Künstlerin im Hinblick auf den erkenntnistheoretischen Gehalt des Zyklus zurückgreift. Das Triptychon here bringt die Sinnhaftigkeit dieser Ambivalenz pointiert zum Ausdruck. In dieser Arbeit integriert die Künstlerin Worte in die innerbildliche Realität, was in Übereinstimmung mit dem Gebrauch von Bildmotiven als pragmatischer Verknüpfung zwischen Form und Bedeutung steht. Während auf dem rechten Flügel des Triptychons das englische Wort ‚here’ ikonenhaft in der Bildmitte hervorsticht, zeigt der linke Flügel dasselbe Wort in seitenverkehrter Gestalt. Im zentralen Bild begegnet ein goldener Keil einer schematischen Berglandschaft. Deren Größenverhältnis lässt Letztere so erscheinen, als wäre sie weit in der Ferne. Eine Ferne auf der anderen Seite des Glases, von deren Standpunkt aus die linke Tafel so zu lesen wäre, wie der Rezipient diesseits die rechte Tafel liest. Darin vergegenständlicht sich eine Metapher für die Erkenntnisproblematik, die besagt, dass alles Erkennen vom Standpunkt des Erkennenden abhängt.
Zwischen Zeit und Ewigkeit (Hinterglasmalerei, 2015-18) lautet die Überschrift der jüngsten Serie von Veronika Dobers. Ein poetischer Titel, der auf einen Satz aus Hermann Hesses Roman Peter Camenzind (1904) zurückgeht:
„Und so wie die Wolken zwischen Erde und Himmel zag und sehnend und trotzig hängen, so hängen zag und sehnend und trotzig die Seelen der Menschen zwischen Zeit und Ewigkeit.“
Diese Bezugnahme deutet bereits auf die Prägung des Zyklus hin. Denn zwar handelt er von erkenntnistheoretischen Betrachtungen wie die anderen Serien. Aber seine Ausführung erweist sich als wesentlich metaphorischer und poetischer denn im übrigen Werk Dobers’. Atmosphärische Bildsituationen lassen klar erkennbare Motive in rätselhaft anmutende Beziehung zueinander treten, was auf die zu entziffernde Bedeutung verweist. Diese ergibt sich – wie im gesamten Oeuvre der Künstlerin – aus dem Zusammenhang zwischen einer privaten Symbolik und den naheliegenden Konnotationen, die allgemein erkennbare Bildmotive mit sich bringen. Im Gegensatz zu den anderen Serien stellt der Raum in diesem Zyklus eine Bühne dar, auf der Momente identifiziert werden können. So zeigt das Bild Abrupt beispielhaft eine atmosphärische Landschaft, in der eine pfeilerartige Grundform aus Gold im Firmament urplötzlich aus dem Nichts erscheint, wie ein Einfall, in dem sich eine Erkenntnis herauskristallisiert. Auf diese Art und Weise bringt der Zyklus die Frage, wie die Wirklichkeit der Welt angenommen wird, zu ihrem ursprünglichen Fundament zurück: dem empirischen Aufeinandertreffen zwischen der unerbittlichen Zeitlichkeit des Menschen und der unüberbrückbaren Unzugänglichkeit des Wirklichen. Zurückgreifend auf diesen Fundus, in dem die eigene Subjektivität des Selbst verankert ist, stellt die Künstlerin freie Reflexionen über Realität und Erkenntnis mit den Mitteln der Kunst auf, ohne sich dabei der Normativität stichhaltiger Argumente oder der Annahme einer philosophischen Wahrheit zu verpflichten. Eben in der Ungezwungenheit dieser Verbindung zwischen Philosophieren, Kunst, Wirklichkeit und Erkenntnis liegt die Sonderstellung von Veronika Dobers’ Arbeit.