VERONIKA DOBERS

RAINER BEßLING 2020

Denkwelten und Welt denken

Zu den Branches, Bundles und Heaps von Veronika Dobers

„Weltall, Erde, Mensch“ lautet der Titel eines kleinen Gedichts, mit dem Veronika Dobers die Themen ihrer Kunst entfaltet. Darin heißt es:

 

„das Weltall ist riesig
die Erde ist klein
das Menschlein ist winzig
und möchte groß sein

es jagt und es sammelt
seit uralter Zeit
biegt, bündelt und häuft
und ist immer bereit.“

Nichts weniger als das Wesen der Existenz nimmt die Künstlerin damit in schlichter Diktion und lakonischem Ton in den Blick und bricht diese in ihren Bildern auf karge Szenerien und eine klare Formensprache herunter. Dem begrenzten Dasein und grenzenlosen Eifer des Menschen begegnen wir darin in einem uferlosen All aus zeichenhaften Figurationen und monochromen Farbräumen. Über Zeiten und Räume hinweg das immer gleiche Spiel: ein Streben, ein Sammeln, ein endloser Kampf. Für diese Daseinsgestaltung findet die Künstlerin prägnante Objekte. Äste, Bündel und Haufen treten allegorisch als Begleiter des Menschen auf. Äste repräsentieren organisches Material zwischen Naturzustand und zivilisatorischer Nutzung. Sie stehen stellvertretend für den Menschen, der nicht nur Natur zu beherrschen versucht, sondern auch sich selbst nach Leibeskräften biegt, um seinen Platz in der Welt zu besetzen. Assoziationen zum Baum in seinem natürlichen Wachstum und in seiner Zurichtung für menschliche Bedürfnisse werden geweckt. Das Bündel steht in einem Zwischenzustand für den Rohstoff kultureller Tätigkeit sowie konzentrierter geistiger Energien und innerer Befindlichkeiten.

Anstelle des deutschen Wortes Haufen verwendet Veronika Dobers vorzugsweise die englische Vokabel Heap. Das klingt schärfer und pointierter und macht das Aufwärtsstreben und die Positionierung der spitzen Erhebung noch sinnfälliger. Die „Heaps“ füllen wie Monumente einsam den Bildraum, sie mischen sich in eine Winterlandschaft, schieben sich vor Schreibübungen oder gesellen sich zu Pflanzen. Als ein Gemenge aus Landschaftselement und abstraktem Zeichen sprechen sie von Natur und Kultur, von Ehrgeiz und Ertrag, von Gebilden und Bildung, die der Mensch in die Welt stellt und die ihm zugleich wie fremde rätselhafte Wesen in körperhafter Gestalt gegenübertreten. Tropfen kommen als weiteres Bildelement ins Spiel. Als „physikalische Phänomene“ schweben sie vom Himmel wie monumentaler Regen, mal hell, mal dunkel, gleichsam als Stellvertreter von Schatten und Licht. Sie fliegen mit dem Wind, versinken im Fluss, prallen gegen Häuser, kriechen am Boden. Sie zeichnen den Weg des Wassers nach, den Kreislauf der Natur im besiedelten Umfeld. Sie werden getreten und geschlagen, gefangen und eingesammelt als Grundelement des menschlichen Bedarfs. Dabei tauchen sie nicht nur als physische Erscheinung auf, sondern auch als poetisches Ereignis. Sie sprechen bildhaft vom Austausch mit der Natur, von der Besiedlung der Landschaft, aber auch von Träumen und Erzählungen. Wenn Tropfen vor dem Gesicht einer Frau auftauchen, die zu schlafen oder nach innen zu blicken scheint, dann bekommen die physikalischen Phänomene einen Resonanzraum in den Vorstellungswelten des Menschen, in seinen Imaginationen, in einem Denken, das der äußeren Welt eine bildhafte und begriffliche Ordnung gegenüberstellt.

Die Bilder von Veronika Dobers kreisen um Gedanken und um Denkformen, um Erkenntnissuche und die Suche nach dem Selbst. Es geht um reale Existenz und um Vorstellungen vom Dasein in einer cartoonhaft zugespitzten Bildsprache, die Schaubildern ähnelt, so als werde das Menschliche in einer naturkundlichen Präsentation exponiert. Die Künstlerin zeichnet ihre Protagonisten bewusst sachlich und neutral. Geschlechtslos, universell, archetypisch treten sie auf, ganz konkret in ihrer Kleinheit und ganz umfassend in ihren Ambitionen. Häufig sind sie damit beschäftigt, sich einzuüben in die Zivilisation. Die Künstlerin unterstreicht diese Enkulturation mit der Verwendung von Blättern aus Schulheften. In der Serie School, in der Schreibübungen aus dem Heft einer 11-jährigen japanischen Schülerin als Grundlage dienen, erscheint ein Ast in Knotenform, im Wechselspiel von Fügung und Ausbruch in die ursprüngliche Form. Ein Baum ist in einer leuchterähnlichen Form zu sehen, wie sie die Natur nie wachsen lassen würde. Das Spannungsverhältnis zwischen natürlichem Wuchs und Kultivierung gewinnt hier Gestalt. Auf dem Bildträger Schulheft erweitert sich der Bedeutungshorizont, und die Formung bezieht sich auch auf Schulung und Erziehung des Menschen, die Zurichtung von Eigenart auf kulturelle Standards hin.

Anfang 2010 nahm Veronika Dobers an einem Kunstprojekt in Iwami teil, einem Dorf in der Präfektur Tottori am Ufer des Japanischen Meeres. Das Thema hieß Man and Nature, ein grundsätzliches Sujet, das Veronika Dobers nicht erst seit Beginn ihres Japan-Aufenthaltes in besonderer Weise beschäftigt. Sie setzte sich in Iwami nicht nur global damit auseinander, sondern stellte ihre Arbeiten in einen direkten Bezug zur Region, inhaltlich und auch technisch. Unter anderem verwendete sie für ihre Zeichnungen Papier, das zur Bespannung japanischer Fenster benutzt wird. Während der Erkundung des Dorfes entdeckte sie die Skulptur eines Schuljungen in traditioneller japanischer Kleidung. Diese Figur erinnerte Veronika Dobers an ein früheres Motiv aus ihrer eigenen Bildwelt: Eine Art Kind-Mann, der auf einem Stuhl sitzend abstrahiertes fundamentales Weltgeschehen betrachtet. Der Protagonist des Menschleins aus dem anfänglichen Gedicht.

Dobers´ Protagonisten durchstreifen karge Landschaften. Sie erscheinen meist vereinzelt, einsam, hineingeworfen in ihr Dasein. Sie wandern, rudern, huschen flüchtig durch die Welt, ein kurzer Auftritt, ein Intermezzo. Dabei versuchen sie Spuren zu hinterlassen, eine Schneise zu schlagen, sich zurechtzufinden, heimisch zu werden. Der Mensch steht zwischen dem Offenen, Öffentlichen und dem Privaten, Heimeligen, zerrissen zwischen dem Nahen und dem Fernen. In einem Bild zeigt der Protagonist auf einen Vogel, der frei und über Grenzen hinweg in den Lüften schweben kann. Er selbst tut sich darin schwer, zwischen seinen Wurzeln und Bindungen und der offenen Welt zu wählen. Jeder Lebensmoment ist ein Entscheidungsmoment. Jede Entscheidung ist Abwägung und Wagnis. Point of Decision heißt eine Arbeit, in der sich ein Ruderer zwischen zwei parallelen Welten entscheiden muss.

Veronika Dobers fasst Gedanken als Daseinsweisen in Bilder zwischen Kurzgeschichte und Aphorismus. Sie geben sich als Imaginationen zu erkennen, sind also selbst Ertrag von gedanklicher Arbeit. Spiel und Strenge korrespondieren miteinander. Die Leere und die Zwischenräume sprechen mit. Sie reflektieren, dass sich das Bewusstsein einer vollständigen Repräsentation entzieht. In den Bildern von Veronika Dobers herrscht Stille, die Zeit scheint angehalten. Die planen monochromen Bildräume sorgen für eine versammelte Atmosphäre. Das Ereignis wird gedehnt, die Gegenwart ist für den Betrachter auf Dauer gestellt. Hinter den kargen Szenen, die wie ein Portal auf der vordersten Kante des Bildes stehen, öffnen sich virtuelle Welten. Der Bildraum ist gefüllt mit dem Widerhall der Szenen: ein Echoraum, der selbst ein Kolorit in das Geschehen hineinträgt.

Mit der Hinterglasmalerei und der Zeichnung verwendet Veronika Dobers zwei Techniken, die eigentlich im Gegensatz zueinander stehen. Auf der einen Seite ein Malvorgang, der genaueste Planung erfordert, auf der anderen der bildnerische Prozess, dem im allgemeinen größte Spontaneität und Wahrhaftigkeit zugesprochen werden. Die Künstlerin zeigt, dass in beiden Techniken beide Varianten möglich sind, direkter Ausdruck und Kalkül. In einer Serie von Zeichnungen mit dem Titel Hirngespinste bringt sie grafische Schleifen zwar akkurat, aber ohne kompositorischen Plan und
ohne Kontrolle auf das Papier. Denken im geformten begrifflichen Sinne scheint hier ausgeschlossen, eher heftet sich etwas auf das Papier, das zwischen Bildvorstellung und Hand kurzgeschlossen oder dem Eigenschwung der Hand gemäß ist. In anderen Zeichnungen ist genaueste Anlage erkennbar, die metaphorische Eindringlichkeit, die Veronika Dobers‘ Arbeiten entwickeln, wäre ohne formale Pointierung auch gar nicht denkbar. Zeichnung dokumentiert hier die Kraft der Konturierung, die auf einer gedanklichen Verdichtung und grafischen Konzentration basiert. In der Hinterglasmalerei finden sich auch die bereits erwähnten spontanen, im Ergebnis skizzenhaft wirkenden Arbeiten, die eine ganz besondere Atmosphäre besitzen, archaisch, fast naiv, wenn man damit unverstellte natürliche Auffassung meint. In der Mehrzahl aber sind die Hinterglasbilder Ergebnis eines ebenso komplizierten wie komplexen Vorgangs, der nicht zuletzt auch eine spezielle Denkleistung und Vorstellungskraft erfordert. Die Motive werden mit Ölfarbe seitenverkehrt auf die Rückseite einer Acrylglasplatte aufgetragen. Diese Technik ruft Eindrücke hervor, die in den Bildinhalten ihre vielfältigen Entsprechungen haben. So wie sich in den Szenen immer wieder Gegenständliches und Abstrahiertes, Raum und Fläche, Konkretion und Chiffre treffen, ist auch der Bildträger zugleich Fenster und Wand, Malschicht und Firnis.

Veronika Dobers spricht von grundlegenden Dingen in einer einfachen elementaren Sprache, konkret und reduziert. Sie bringt die Dinge auf den Punkt oder besser in die Linie. Ihr Strich ist zeitlos, er wirkt neutral und besitzt doch den Charakter einer persönlichen Handschrift. Diese mutet historisch an, besitzt Klassizität. Der Bildgedanke tritt beherrscht, gebändigt und durchformt auf. Figuration und Farbe stehen in einem intensiven und spannungsreichen Resonanzverhältnis. Die Komposition ist geklärt, ausgewogen. Es herrscht eine Balance zwischen Inhalt und Form und doch lugt in einem Spalt neben dem Ausgewogenen auch das Abgründige durch, das nicht Beherrschbare, das Ungezähmte, das an jedem Ort menschlicher Tätigkeit mitschwingt, das die Natur und das Natürliche im Menschen offenbart. Die Kunst von Veronika Dobers ist schön, weil sie klar ist und weil sie wahrhaftig ist. Sie ist feingliedrig und fragil, aber dennoch dezidiert und explizit. In der Festlegung der Form, in der strikten Bündelung des Inhalts ruht der offenbarte Gehalt. Zugleich lassen die Formen Rätsel und Geheimnis zu. Sie beweisen vor den Folien des Lernens und des Lehrhaften ihre eigene Lebendigkeit.